Kim Thuy: Botschafterin vietnamesischer Küche und ein bezaubernder Mensch

Kim Thuy hat ihre Karriere als Küchenchefin bei nahezu Null begonnen: Für die Gäste ihres vietnamesischen Restaurants in Montreal gab es nur ein Gericht pro Tag – weil sie nichts anderes konnte. Kim Thuy kochte genau das Gericht, das sie am Tag zuvor von ihrer Mutter gelernt hatte.

In München präsentiert Kim Thuy nun die deutsche Übersetzung ihres Kochbuchs „Das Geheimnis der vietnamesischen Küche“ – und zieht alle in ihren Bann. Cook & Taste war auf Einladung des Antje-Kunstmann-Verlags dabei und durfte dabei auch einige vietnamesische Köstlichkeiten probieren.

Kim Thuy ist ein Mensch, dem man im Vorbeigehen auf der Straße kaum wahrnehmen würde. Aber sobald sie anfängt zu sprechen, hängt man an ihren Lippen. Sie sagt: „Wenn ich zu viel rede, unterbrecht mich, sonst rede ich tagelang weiter.“ Und jeder denkt: bloß nicht aufhören; lieber hungrig nach Hause gehen, als auch nur ein Wort von ihr zu verpassen. Ihre Lebensgeschichte ist genauso spannend und wie ihre Küchen-Anekdoten, ihre Karriere als Roman-Autorin genauso inspirierend wie ihre bezaubernde Art, von der vietnamesischen Küche zu schwärmen.

„Es ist kein Konzept, es ist ein Handicap!“

Fünf Jahre nach Eröffnung ihres Restaurants habe sie natürlich viel besser gekocht, erzähl Kim Thuy. Aber am Anfang sei das seltsam gewesen. „Die Kunden sagten: ‚Oh, wir lieben das Konzept, wir setzen uns hin, essen und müssen keine Zeit verlieren, erst die Speisekarte zu lesen und etwas auszuwählen.‘ Und ich dachte: Es ist kein Konzept, es ist ein Handicap. Denn das ist alles, was ich für euch tun kann.”

Kim Thuy

Heute lacht sie laut und herzlich, wenn sie solche Geschichte von ihren Anfängen erzählt. Kim Thuy lacht überhaupt sehr viel, herzlich und ansteckend. Vielleicht, weil sie in ihrer Kindheit als eine der zahllosen „Boat People“ aus Vietnam flüchtete, aber anders als die meisten vietnamesischen Flüchtlinge sehr viel Glück im Unglück hatte.

„In einer normalen Familie verlierst du Angehörige Krankheiten oder Unfälle“, sagt Thuy. „Aber in Flüchtlingsfamilien verlieren viele ihre Lieben auf See oder auf der Flucht auf der Straße. Viele haben nicht die ganze Familie. Ich habe das Glück, sie alle noch zu haben.“

Kochbuch aus Dankbarkeit für ihre Familie

„Im Kochbuch siehst du viele Fotos von älteren Frauen. Ich hätte nie gedacht, dass mein Verleger das gut findet. Aber ich habe das gemacht, weil ich, ich bin so glücklich, all die Frauen noch zu haben.“ Nur ihre Großmutter lebe nicht mehr, sagt Thuy.

Das Geheimnis der vietnamesischen Küche
Das Geheimnis der vietnamesischen Küche

Mit dem Kochbuch wolle sie nicht nur ihrer Familie, „sondern auch diesem Wunder, dass wir alle überlebt haben, Ehre erweisen. Wir alle haben Vietnam auf verschiedene Weise verlassen, aber irgendwie kamen wir alle an, wie meine Tante Nr. 4. Ihr Mann flüchtete kurz nach uns und sein Boot wurde viermal von Piraten angegriffen. Piraten wussten, dass wir Vietnamesen mit allem gegangen waren, was wir hatten. Kleidung nur, was wir am Leib trugen, aber wir hatten Diamanten und Gold und amerikanische Dollar. Für Diamanten hatten sich viele sogar die Backenzähne ausgehöhlt, um die Diamanten zu verstecken.“ Eine Freundin ihrer Mutter, so erzählt Thuy, habe, als sie die Piraten kommen sah, ihre Diamantohrringe herausgenommen und verschluckt. „Sie fand nur einen der beiden Ohrringe wieder. Also ist sie immer noch jeden Tag auf der Suche nach dem zweiten – seit 40 Jahren.“

Viel mehr als nur ein vietnamesisches Kochbuch

Und dann spricht Kim Thuy doch noch über ihr Kochbuch, die vietnamesische Küche. Obwohl, eigentlich hat sie die ganze Zeit davon gesprochen. Es ist, als wäre das Kochbuch auch ein Teil ihrer Seele, ein Teil ihrer Geschichte.

Einfachste Grundrezepte seien das, was sie aufgeschrieben habe, sagt Kim Thuy. Gerichte, die Vietnamesen jeden Tag essen. Weniger als 50 Rezepte, was für ein Kochbuch nicht viel ist. Und doch irgendwie die Essenz vietnamesischer Küche. Vor allem: das echte, vietnamesische Essen. Viele Landsleute, die in Kanada oder Europa oder sonstwo im Ausland ein vietnamesisches Restaurant eröffnen, würden nicht glauben, dass die Menschen wirklich vietnamesisches Essen haben wollten, sagt Kim Thuy. Dann passten sie ihre Gerichte dem vermeintlichen Geschmack ihrer Gäste an und schaffen damit eine Küche, die viel von dem Reiz der vietnamesischen Küchen verliert.

Kim Thuy und Verlegerin Antje Kunstmann
Kim Thuy und Verlegerin Antje Kunstmann

Das Kochbuch ist so viel mehr als nur eine Rezept-Sammlung. Es ist auch eine Einführung in die vietnamesische Küche. Es hilft zu verstehen, wie diese Küche funktioniert. Kräuter, Nudeln, Gemüse, Obst, Reispapier, Fischsauce haben jeweils ein eigenes, kurzes Kapitel.

Und zu vielen Rezepten gibt es praktische Tipps: Warum es sich lohnt, etwas selbst zu machen, statt fertig zu kaufen; zur Haltbarkeit bestimmter Saucen oder Gerichte im Kühlschrank; zu Varianten; zu geeigneten Ersatzprodukten, wenn man das Original nicht bekommt – beispielsweise Zucchini statt Wachskürbis.

Es fühlt sich an wie ein vietnamesischer Kochkurs

Und auch wenn wir zusammen mit Kim Thuy nur am Tisch sitzen, sie erzählt, selten von Zwischenfragen unterbrochen, zwischendurch ein paar vietnamesische Leckereien probieren: Man hat das Gefühl, einen ganzen Kochkurs mitgemacht zu haben. Die Tipps sprudeln aus Kim Thuy nur so heraus.  Zum Beispiel:

Kim Thuy

„Reispapier ist wie eine Prinzessin. In Vietnam besteht es eigentlich nur Reismehl. Aber es um exportieren zu können, müssen sie ein wenig Tapioka-Mehl hinzufügen, um es elastischer zu machen, damit es nicht so leicht zerbricht. In Vietnam liegt die Luftfeuchtigkeit in Hanoi im Winter bei 100 Prozent. Deshalb ist die Tischplatte immer ein wenig nass, deine Kleider müffeln immer ein wenig, weil sie immer feucht sind. Deshalb muss man Reispapier in Vietnam nicht in Wasser tauchen – es ist schon feucht. Der Trick ist, es nie zu lange ins Wasser zu tauchen. Du nimmst es heraus und wartest einfach zehn Sekunden, bis es die richtige Konsistenz angenommen hat. Ich habe einen Weg gefunden, wie man es machen kann, wenn man viele Gäste hat: mit der Sprühflasche oder einem nassen Handtuch. Die Sprühflasche ist die beste Lösung.”

„Summer Rolls muss man ganz frisch essen“

Summer Roll
Summer Roll

Die in Reispapier eingewickelten Summer Rolls, sagt Kim Thuy, muss man ganz frisch essen, weil sie sehr schnell austrocknen. Wir sitzen schon seit einer Viertelstunde vor unseren Summer Rolls, unangetastet, weil wir fasziniert ihren Geschichten zuhören.

Wir essen, Kim Thuy erzählt weiter: „In Deutschland nennt man das Gericht ‚summer roll‘, in Kanada ‚spring roll‘. Ich weiß nicht, warum. In Vietnam nennen wir sie „imperial roll“. In den meisten Restaurants im Westen enthalten sie nur Koriander und Minze. Aber das Original, wie wir es zu Hause essen, hat mindestens sechs verschiedene Kräuter.

Der erste Bissen, den ersten Duft hast du auf der Ebene deiner Lippen. Wenn du es kaust, dann vermischt sich der Cocktail aller Kräuter im Inneren und wenn du schluckst, hast du den ganzen Blumenstrauß, der von einem Bissen zum nächsten kommt. Es ist nie dasselbe, weil sich die Kräuter ändern, du hast nicht die gleiche Menge, nicht die gleiche Intensität und all das.“

Fleisch und Fisch wird zusammen gekocht

Rindfleisch ist übrigens nicht traditionell vietnamesisch, auch wenn eines der heute bekanntesten vietnamesischen Gerichte, die Nudelsuppe Pho Bo, mit Rindfleisch gemacht wird.

„Wir haben nicht so viele Kühe, vielleicht wegen des Wetters“, sagt Kim Thuy. „Wenn man in Vietnam Kühe sieht, erkennt man sie nicht einmal, weil sie so anders aussehen. Dürr und du siehst die Knochen. Auf dem Markt würden sie dich wahrscheinlich betrügen und dir Wasserbüffel statt Rind verkaufen. Aber Wasserbüffel, je mehr man das Fleisch kocht, desto härter wird es. Es ist sehr seltsam. Am Ende wird es wie ein Stein. Und ich habe es 24 Stunden gekocht und nichts hat sich geändert, es wird immer härter.“

Sate-Spieße und mit Hackfleisch gefüllte Betel-Blätter
Sate-Spieße und mit Hackfleisch gefüllte Betel-Blätter

Rindfleisch sei mit den Franzosen nach Vietnam gekommen, fast wie eine Delikatesse. Heute gibt es Rindfleisch-Importe aus Australien. Ansonsten essen Vietnamesen aber viel Schweinefleisch und Fisch, sagt Thuy.

Kim Thuy

„Ich denke, eine Besonderheit des vietnamesischen Essens ist auch, dass wir Garnelen und Schweinefleisch mischen. Wie in dem Rezept für die gegrillten Aubergine im Kochbuch, mischen wir Hackfleisch mit Garnelen und kochen das zusammen. Im Kochbuch ist auch ein Rezept für karamellisiertes Schweinefleisch, nur Schwein. Aber sehr oft kochen wir etwas Schweinefleisch und viel Fisch. In Vietnam würden sie mit Schweinefleisch beginnen und dann fügen sie den Fisch hinzu und der Fisch würde den Geschmack vom Schweinefleisch annehmen, was im Rest der Welt nur sehr selten vorkommt.

Alte vietnamesische Kochbücher: voll mit absichtlichen Fehlern

Wir erfahren von Kim Thuy auch, warum alte, vietnamesische Kochbücher immer – ganz absichtlich – voll von Fehlern waren. Zugleich schwört sie aber, dass sie keine Fehler in ihr Kochbuch eingebaut hat. Das wäre auch nutzlos in Zeiten von Youtube und Co, wie wir gleich merken, als sie die Geschichte erzählt:

Kim Thuy beim Signieren ihres Kochbuchs für Cook & Taste
Kim Thuy beim Signieren ihres Kochbuchs für Cook & Taste

„Rezepte wurden  nur von Müttern an Töchter innerhalb der Familie weitergegeben, weil wir glauben, wenn die Nachbarin das gleiche Rezept hat wie wir, dann könnte sie uns den Ehemann ausspannen. Du hältst deinen Mann über den Magen bei Laune. Du kannst die Rezepte also nicht mit jemand anderem teilen. Noch vor 20 Jahren vor Youtube und all dem, wusste man, dass in jedem auf Vietnamesisch geschriebenem, vietnamesischem Kochbuch jedes Rezept einen Fehler hat.“

„Das Spiel ist, den Fehler zu finden. Es ist nie das richtige Rezept. Du weißt von Anfang an, dass es falsch ist. Wenn er Kochbuchautor nicht so gut ist, dann kannst du den Fehler sofort finden, weil er zu offensichtlich ist. Bei denjenigen, die sehr gut sind, ist der Fehler so geringfügig, dass man ihn nicht bemerken kann, aber er ändert das Rezept komplett und du wirst das Gericht nie richtig hinbekommen. Diese Rezepte muss man immer und immer wieder probieren, um den Fehler zu finden.“

Nach einem Rezept zu fragen ist unhöflich

Kim Thuy

Und dann bekommen wir von Kim Thuy noch einen Ratschlag in Sachen vietnamesischer Höflichkeit: „Wenn meine Mutter etwa zweimal pro Woche ein Abendessen veranstaltet – also mindestens für 12 oder 15 Personen, sonst ist es kein Abendessen sondern ein Snack. Wenn die Frauen also ins Haus kommen, gehen sie alle in die Küche. Und wenn sie ein Rezept mögen, dann weiß ich genau, dass man unter vietnamesischen Frauen nie nach dem Rezept fragt. Denn wenn man nach dem Rezept fragt, zwingt man die andere Person in die unangenehme Situation, lügen zu müssen. Denn sie können dir das echte Rezept ja nicht geben. Stattdessen schaust du in der Küche genau zu und stiehlst, indem du zuschaust und schmeckst.“

Kim Thuy

Einen so inspirierenden Menschen wie Kim Thuy mit Fakten zu beschreiben, verbietet sich eigentlich. Dennoch wollen wir abschließend  einige Fakten nicht unerwähnt lassen. Denn Kim Thuy ist nicht nur Kochbuchautorin. Zuvor hat sie nämlich schon vier Romane geschrieben, und das mit großem Erfolg: 2009 veröffentlichte sie ihr erstes Werk, „Ru“. Für „Klang der Fremde“ (2010) sammelte sie dann gleich zahlreiche, internationale Preise ein. 2014 folgte „Der Geschmack der Sehnsucht“ und 2017 „Die vielen Namen der Liebe“.

Nach der Flucht mit ihrer Familie aus Vietnam – damals war Kim Thuy zehn Jahre alt – wuchs sie im französischsprachigen Teil von Kanada auf, arbeitet als Übersetzerin, Anwältin, Gastronomin und Moderatorin in Radio und Fernsehen. Ihr eigenes Restaurant „Ru de Nam“ hatte sie in Montreal von 2002 bis 2007.

„Das Geheimnis der Vietnamesischen Küche“

Die Geheimnisse der vietnamesischen Küche
Die Geheimnisse der vietnamesischen Küche

Kim Thuy
Übersetzung: Brigitte Große
ISBN: 978-3956142949
190 Seiten
25,00 Euro – bestellen bei Amazon.de

Offenlegung: Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Verkäufen. Links zu Amazon sind mit einem Anzeigensymbol und/oder dem Hinweis "(bezahlter Link)" gekennzeichnet.

Anmerkung*: Cook & Taste hat an der Kochbuch-Präsentation mit Kim Thuy auf Einladung des Antje-Kunstmann-Verlags teilgenommen.
X

Hinweise zur redaktionellen Unabhängigkeit und zu Werbung

Cook & Taste hat an der Kochbuch-Präsentation mit Kim Thuy auf Einladung des Antje-Kunstmann-Verlags teilgenommen.

In unserer unabhängigen, journalistischen Berichterstattung lassen wir uns durch Einladungen, Produkt-Links, Sponsoring oder Ähnliches nicht beeinflussen.

Mehr Infos und Erläuterungen zu diesem Thema finden Sie im Beitrag "Transparent und ehrlich".

Der Text kann sogenannte Affiliate-Links - also Werbe-Links - enthalten, die wir deutlich mit dem -Symbol als ANZEIGE kennzeichnen. Dazu gehört unter anderem, dass ich als Amazon-Partner an qualifizierten Verkäufen verdiene.

Schreibe einen Kommentar